2019 – 70. Jahrestag der Berliner Luftbrücke ("Airlift") vom 24.Juni 1948 bis 12. Mai 1949 – Zeitzeugenbesuch am Tagore
Als durch das Potsdamer Abkommen die Teilung Deutschlands und auch Berlins in Besatzungszonen erfolgte, begann schleichend der "Kalte Krieg". Als dann die Westmächte auch noch wagten, die Deutsche Mark als neue Währung einzuführen, reagierten die Sowjets mit der Blockade aller Zufahrtswege zur Hauptstadt. Die vom Krieg gebeutelten Berliner hatten ohnehin schon weder ausreichend Nahrungsmittel noch Kohle, und der kommende Winter sollte einer der kältesten überhaupt werden. In einer beispiellosen Aktion organisierten die US-Generäle Lucius D. Clay und William H. Tunner quasi über Nacht die Versorgung der Berliner aus der Luft, bekannt geworden insbesondere durch die "Rosinenbomber" ("candy bombers") und den Piloten Gail Halvorsen, der aus Taschentüchern kleine Fallschirme gebastelt hatte, um Schokoladentäfelchen für die Kinder vom Himmel fallen zu lassen. Die in dieser Zeit gegründete Hilfsorganisation CARE (Cooperative for American Remittances to Europe) schnürte massenweise Hilfspakete mit Milchpulver, Wurst, Mehl, Käse, Schokolade und anderen heiß ersehnten Nahrungsmitteln. "Die Alliierten wollten nicht, dass die Sowjets sich Westberlin einverleiben, und die Russen wollten nicht, dass Berlin den Westmächten zufällt." So schilderte Frau Radue die Situation, eine fidele ältere Dame, die die Klasse 10.2 am heutigen Montag besucht hat, um von ihrer Kindheit zu berichten. Einer Kindheit mit drei Geschwistern und einer alleinerziehenden Mutter im Nachkriegsdeutschland, denn der Vater war "im Krieg geblieben", wie sie es nannte. Sie erzählte, wie sehr sie Gesang mochte und welch große Bedeutung das Radio in ihrer Familie hatte. Dass die Mädchen in der Schule keine Hosen oder gar Nylonstrümpfe trugen. Dass sie ein Mal eine Bekannte ihrer Mutter besuchte und die Treppe zum 1. OG nach einem Bombeneinschlag nur noch halb vorhanden war, sodass sie sich dicht an die Wand presste, um beim Treppen Steigen nicht abzustürzen. Dass das Baby dieser Bekannten unter der Bettdecke erstickt war, wo es, geschützt vor der Eiseskälte, die durch die von Bomben zerstörten Fenster drang, warm und sicher hätte schlafen sollen. Sichtlich gerührt berichtete sie davon, wie sie in geheimer Mission und auf Geheiß ihrer Mutter mit ihrer Schwester und einem Kinderwagen mit Babypuppe nach Westberlin fuhr, um dort ein CARE-Paket zu ergattern, von dem die Ostberliner zunächst nur durch Hörensagen erfahren hatten. Nach stundenlangem Warten mit anderen Menschen auf einem großen Schulhof verstauten sie das heiß ersehnte Paket im Kinderwagen und machten sich auf dem Rückweg nach Ostberlin, wohl wissend, dass die Grenzposten die Anweisung hatten, den Ostberlinern die Pakete abzunehmen. Als sie sich dem mit der Mutter ausgemachten Treffpunkt näherten, wurden die beiden Mädchen von einem Soldaten gestoppt. Was sie da im Kinderwagen hätten? Schweigen. Der Grenzposten schlug die Decke zurück und entdeckte das Paket. Die beiden Mädchen fürchteten das Unvermeidliche. Der Soldat jedoch deckte das Paket wieder sorgfältig zu und deutete ihnen mit einer Geste, sie sollten weiterlaufen... Hartkäse war darin, Milchpulver, Mehl, Kartoffel-Surrogat – penibel rationiert und während der Abwesenheit der Mutter sicher im Küchenschrank eingeschlossen, damit die vier Leckermäulchen ja nicht davon naschten... Apropos Naschen: Frau Radue hatte uns sogar zwei Bleche leckeren, selbst gebackenen Pflaumenkuchen mitgebracht. Wir bedanken uns bei Frau Radue für den fesselnden Einblick in ihre Kindheit und den Kuchen sowie bei Frau Osterburg von der Amerikanischen Botschaft und Frau Böse von CARE für die Vermittlung dieses Zeitzeugenbesuches. Ich persönlich möchte mich bei meiner 10.2 bedanken, die sich wie eine Bilderbuchklasse benommen hat. Berlin, 30.09.2019 PS: Fotos gibt es dazu leider nicht – Frau Radue möchte keinen elektronischen Fußabdruck generieren. Autor: